„Who am I, Nobody knows but me“ (Lennon) Wovon wir reden, wenn wir über Geschlechtsidentität reden und was das für die Behandlung bedeutet. Vortrag Frankfurt, Goethe-Uni, 2016.

Cornelia Kunert, Wien

Vortrag auf der Goethe-UNI Frankfurt 4.2.2016. Anlässlich der Tagung: Transsexualität. Eine gesellschaftliche Herausforderung im Gespräch zwischen Theologie und Neurowissenschaften.

Hier die Folien meines Vortrages und die Kurzzusammenfassung. Eine sehr viel ausführlichere Textversion des Vortrages wird voraussichtlich im Herbst 2016 im de Gruyter Verlag veröffentlicht.

Wovon wir reden, wenn wir über Geschlechtsidentität reden und was das für die Behandlung bedeutet.

Wie wird das Rätsel der Transsexualität verstehbar, dass Menschen wesentliche Möglichkeiten der sexuellen Begegnung und der körperlichen Unversehrtheit aufgeben, viele Verluste in Kauf nehmen und sich trotzdem nachhaltig besser fühlen?
Konstitutionelle Geschlechtsinkongruenz ist ein Phänomen, mit dem das klassische Leib-Seele-Problem der Philosophie thematisiert wird. Geschlechtsidentität wird als eine intrinsische Erfahrung in der Ersten-Person-Perspektive dargestellt, auf die es keinen objektiven Zugriff gibt. Die Funktionsweise eines „Selbst“ macht verständlich, ob und auf welche Weise subjektive Erfahrungen in ein Selbstmodell assimiliert werden können. In einem zweiten Teil wird das „inhibited embodiment“ und die spezifische Reaktion des Aufmerksamkeitssystems als ein Erklärungsansatz des transsexuellen Erlebens dargestellt. Eine signifikante „Kongruenzdynamik“ während des Transitionsprozesses ist ein psychologisches Argument gegen die Psychopathologisierung. Abschliessend werden ethische Konsequenzen der angestellten Überlegungen für eine menschenrechtskonforme Behandlung gezogen.

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Die Transsexualität stellt uns vor ein Rätsel! Es besteht darin, dass es Menschen gibt, die sich wohler und gesunder fühlen, wenn sie wesentliche Austragungsmöglichkeiten der sexuellen Begegnung und ihre körperliche Unversehrtheit aufgeben, Ächtung und Spott in Kauf nehmen und Verluste sehr wichtiger Bezugspersonen ertragen um ein Leben im Identitätsgeschlecht zu realisieren. Das alleine ist schon rätselhaft, aber nicht rätselhaft genug. Das Rätselhafte daran ist, dass die Menschen in der Regel nach einem derartigen Prozess der Geschlechtsangleichung nachhaltig psychisch und funktional Verbesserungen erleben.
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Dieses psychologisch Rätselhafte an den Veränderungen transsexueller Menschen und den spezifischen Transprozessen ist jedoch ein Phänomen dass kulturunabhängig über die Zeiten hinweg existiert. Die Transsexualität scheint zum Repertoire menschlichen Verhaltens zu gehören. Deshalb ist Transsexualität als Phänomen auch philosophisch interessant, denn immer dann, wenn ein kontraintuitives oder rätselhaftes Phänomen zuverlässig über die Zeiten hinweg existiert, ist der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn besonders hoch, wenn es schliesslich verstanden wird oder ein wesentlicher Schritt zu seinem Verständnis getan wird.  Darüber hinaus berührt die Transsexualität eines der ältesten philosophischen Themen, nämlich das Leib-Seele-Problem, oder wie man heute eher sagen würde das Verhältnis von Körper und Bewusstsein.
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Das Bewusstsein ist wie die Grinsekatze, der Alice im Wunderland begegnet und die sich vor ihren Augen wieder auflöst, als sie näher kommt. Und so wie sich die Katze vor den Augen von Alice wieder auflöst und nur das Grinsen zurückbleibt, so löst sich scheinbar das Phänomen „Bewusstsein“ und „Selbst“ vor unseren Augen auf, wenn wir es messen wollen.
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Mentale Zustände haben die Eigenschaft auf bestimmte Weise subjektiv erlebt zu werden. Das subjektive Erleben macht das Bewusstsein zum philosophischen Problem und zum Rätsel. Mentale Zustände haben einen phänomenalen Gehalt, der sich nicht objektivieren lässt. Subjektivität ist in der empirischen Wissenschaft immer sehr verdächtig. Man kann ihr nicht über den Weg trauen. Es wird angenommen, dass kein wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn durch sie möglich sei. Sie wird verdächtigt anfällig zu sein für tendenzielle Selbsttäuschung, Irrtum, Lüge, oder Unfähigkeit. Deshalb muss erklärt warum sinnliche Erfahrung den unmittelbarsten Bezug zur Welt darstellt, der möglich ist.
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Der phänomenale Erlebnisgehalt ist nichtmateriell und deshalb bleibt bei jedem Identifikationsversuch von physischen und mentalen Ereignissen diese Erklärungslücke bestehen.
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Die Erfahrung der Geschlechtsidentität ist immer eine intrinsische Erfahrung von Qualia in der „ersten-Person-Perspektive“.
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Wer oder was ist denn dieses Subjekt eigentlich, von dem hier die Rede ist. Wer genau hat denn eigentlich eine Geschlechtsidentität; ein geschlechtlich dimorphes Gehirn, oder gibt es ein Selbst als Träger der Geschlechtsidentität. Aber was genau ist ein Selbst? Das Selbst ist phänomenologisch ein subjektives Zentrum des Erlebens, das in einem Bewusstsein als ein Ich repräsentiert wird.
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Zum Beispiel: Wenn ein dem männlichen Geschlecht zugeordnetes Kind in sich ein subjektives Empfinden weiblicher Identität spürt, dann kann es das unter Umständen nicht in das Selbstbild einordnen und Inkongruenz entsteht. Die Erfahrung der weiblichen Identität muss abgewehrt werden, weil es die Sicherheit des Kindes im Familiensystem bedroht. Der Bruder  einer Klientin sagte zu ihr:„Es wäre besser, du wärst tot, als du bist transsexuell.“
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Ein zentraler Begriff für das Zusammenwirken von Gehirn und Selbst, ist der des „Embodiment“. Der Embodiment-Begriff ist das naturalistische Synonym für das klassische „Leib-Seele“ Problem.
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Die Unmöglichkeit das Körperbild in das Selbstmodell zu assimilieren ist eine mit der Diskrepanz zwischen Körperbild und Körperschema gegebene Verfassung. Der Mensch findet sich darin vor. Es ist eine dispositionelle-konstitutionelle Bedingung.
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Schon 1950 hat der Daseinsanalytiker Medard Boss auf einer Psychiatrietagung in Badenweiler in der Schweiz erstmals von einer konstitutionellen  Verfasstheit einer Transsexuellen Patientin gesprochen und deshalb eine geschlechtsangleichende Operation vorgeschlagen, was damals einen Skandal unter den anwesenden Psychiatern auslöste. (Boss-Mitscherlich-Kontroverse)
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Der Begriff der „Geschlechtsdysphorie“ ist irreführend, weil keine Dysphorie vorliegt, sondern eine anhaltende Ablenkung des Aufmerksamkeitssystems, die als leidvoll und störend erfahren wird. Da sie aus verschiedenen Gründen abgewehrt wird, entsteht auch eine Inkongruenz. Das Thema der Geschlechtsidentität kann sich nicht beruhigen und unbewusst werden, sondern hat eine störende Präsenz im Bewusstsein.
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Kongruenzdynamik bezeichnet eineDynamik, die mit allen Zeichen der Entfaltung und Entspannung einhergeht und als „allgemeine Kongruenzdynamik“ 1994 von Speierer in die personzentrierte Psychotherpie eingeführt und empirisch erfasst wurde. Sie zeichnet jeden gelingenden Psychotherapieprozess und jede psychische Gesundung aus. Die Kongruenzdynamik beschreibt eine dynamische Zunahme von Integration organismischer Erfahrung in das Selbstmodell. Sie ist jeder personzentrierten Psychotherapeutin sehr vertraut.
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Die Kennzeichen einer Kongruenzdynamik nach Speierer. (1994)
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Angesichts der Wirkung der Kongruenzdynamik wird klar, wie falsch die psychopathologisierenden Theorien zur Transsexualität sind.
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„Wenn jemand versteht, was für ein Gefühl es ist, ich zu sein, ohne mich zu analysieren oder zu richten“, sagt Carl Rogers, „in einer solchen Atmosphäre kann ich blühen und wachsen.“
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Dies ist die ausgesprochen transphobe Fallbeschreibung einer Transfrau in einem gängigen Lehrbuch.  Bis  zuletzt wird die bereits geschlechtsangleichend operierte Frau  als „Herr D.“ bezeichnet und psychopathologiesiert, als sie sich dagegen wehrt.  Hartmann, Becker, 2002, „Störungen der Geschlechtsidentität. Ursachen, Verlauf, Therapie“, S.156ff.
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Als Konsequenz aus den im Referat ausführlich dargestellten Prämissen ergeben sich Forderungen für eine menschenrechtskonforme Behandlung: Keine Zwangspsychotherapie, keine Gutachten, kein Alltagstest und Hormonsubstitution auf Verlangen mit medizinischer Betreuung und Beratung. Personenstandsänderung ohne Hürden.
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An die Stelle des Nomos einer fragwürdigen Moral soll die Ethik der Kongruenz treten. Gut ist das, was eine Entfaltung des Daseins unterstützt und Sinnerfahrung ermöglicht, schlecht das, was diese Dynamik verhindert.
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Consciousness (Bewusstsein) und conscience (Gewissen) haben die gleiche Wurzel. Die Tiefen des eigenen Bewusstseinsraumes behutsam zu erforschen, lässt uns auch gewissenhafter und achtsamer werden; mit uns selber und mit anderen. Wir hören dann den leisen Ruf unseres Lebens etwas lauter; wie es uns ruft und auf uns wartet.
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